Hörspiel-Geschichte 1946-1968

1946

Innovative Technik für das Hörspiel. Bandmaschinen werden erstmalig verwendet, Live-Auftritte vor dem Mikrofon entfallen.

Bis in das Jahr 1948 musste man (auf allen Gebieten) vom Bestand zehren. Hörspiel von unbekannten Autoren, dies wäre im Theater unmöglich gewesen.
Ein direktes Anknüpfen an die reiche Tradition der zwanziger und dreißiger Jahre war nicht möglich, da viele Archive durch den Krieg zerstört, in Unordnung waren oder durch die Neuorganisation des Sendebetriebs nicht sogleich gefunden/zugeordnet werden konnten.

»Gedämpfte Stimmen, bedächtiges Reden, ängstliches Flüstern, verhaltene Anklage. Kinos und Theater lagen in Schutt und Asche. Das Ablenkungs- und Nachholbedürfnis war groß: Radio als Kulturträger, als Mittel der Mahnung, der ›Re-Education‹, der Erziehung zur Demokratie. Hörspiel als Zeitbewältigung«
Quelle: Karl H. Karst: »Das Hörspiel in Stichworten«

20. Januar
Volker Starke: » Der Held – Sender Hamburg«
Mit dem Original-Ton-Hörspiel Starkes eröffnet der Sender Hamburg wieder seine Hörspielproduktion.
Inhalt: Ein Offizier der zusammengebrochenen Ostfront begeht Ungehorsam aus Verantwortung gegenüber anvertrauten Menschen.

13. November
Klabund: »Der Kreidekreis – MDR«

1947

Dezentralisierung der Rundfunkanstalten – im Gegensatz zum zentralisierten Reichsrundfunk des Dritten Reiches.
Unabhängigkeit von Parteien und Behörden soll damit gewährleistet sein.

Wolfgang Borchert: »Draußen vor der Tür« – NWDRMit Hans Quest, dem es auch gewidmet ist.
Die Eindringlichkeit des Hörspiels ist nicht zuletzt durch die Erfahrungen der Sprecher mit Krieg und dessen Sinnlosigkeit zustande gekommen. Borchert selbst konnte das Hörspiel nicht hören – Stromsperre in seiner Straße, und so ging er, um nicht zu frieren, ins Bett.
Ursprünglicher Titel: »Ein Mann kommt nach Deutschland«. Er wurde am Abend vor der Sendung eigenmächtig von Schnabel in »Draußen vor der Tür« geändert.

Axel Eggebrecht: »Was wäre, wenn …« – NWDR
Ernst Schnabel: »Der 29. Januar« – NWDR

Ernst Schnabel (NWDR) rief die Hörer auf, »brieflich zu erzählen, wie Sie den 29.01.1947 verbracht hätten: es brauchten Ihnen keineswegs Sensationen begegnet zu sein, Alltagsgeschehen seien wichtiger.« Schnabel erhielt 35.000 Briefe.
Schnabel wiederholte dies zum 01.02.1950 und erhielt 80.000 Briefe.

Großes Jahr des Features – hieß zuvor »Hörfolge«.
Featureautoren der 50er Jahre beim NWDR: Alfred Andersch, Wolfgang Hildesheimer, Wolfgang Koeppen, Siegfried Lenz, Hans Werner Richter, Wolfgang Weyrauch.
Das Hörspiel erhielt von der Seite des Features viele Impulse – formal, methodisch und teilweise auch inhaltlich.

01. Januar
5.442.000 Rundfunkteilnehmer in Deutschland.

1948

Berta Waterstradt: »Während der Stromsperre« – Berliner Rundfunk

01. Januar
6.058.000 Rundfunkteilnehmer

Der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) entsteht.

10. August
Der Bayerische Rundfunk (BR) entsteht.

02. Oktober
Der Hessische Rundfunk (HR) entsteht.

30. Oktober
Der Südwestfunk (SWF) entsteht.

22. November
Der Sender Radio Bremen (RB) entsteht.

1949

Autoren erhalten für ein Hörspiel-Manuskript im Durchschnitt 400-500 DM.

Paul Ohlmeyer: »Odilio« – SDR
Anweisung des Autors: »Die Spieler sprechen ohne Pathetik, durchweg langsam und mit betonten Pausen. Wenn sie nur deutlich und schlicht sprechen, wird das Pathos sich einstellen, das gemeint ist.«

Francis Durbridge: »Paul Temple und die Affaire Gregory« – NWDR Köln
Gottfried Benn: »Drei alte Männer« – Radio Bremen

01. Januar
6.857.000 Rundfunkteilnehmer

06. April
Der Süddeutsche Rundfunk (SDR) entsteht.
Martin Walser wird Dramaturg beim SDR.

1950

Hamburg und Köln mit gemeinsamem Mittelwellenprogramm, mit je 26 Hörspielterminen im Jahr.

Gottfried Benn: »Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431« – Deutschlandsender
Jaroslaw Hasek: »Der brave Soldat Schwejk« – MDR

Bis zu 50 Prozent der Rundfunkteilnehmer sitzen vor ihren Mittelwelle-Apparaten und hören in den 50er Jahren Hörspiele.
Viele richten sich den Hörspielabend so ein, als ob sie ins Theater gehen wollten.

NWDR: Trennung von Hörspiel- und Feature-Redaktion.

UKW-Betrieb beginnt erstmalig im Mai, damit verbesserter Empfang.

SDR (Süddeutscher Rundfunk) gibt das erste Hörspielbuch heraus: Hörspiele in gedruckter Form.

Hörspiel der 50er Jahre:
Tendenz zur Verinnerlichung und zur Reduzierung der Wirklichkeit auf den menschlich-privaten Bereich. Autoren vermittelten »ihre Aussagen nicht mehr direkt, sondern zunehmend in poetisch reizvollen, phantatischen Bildern einer entsprechend geschulten Hörergemeinschaft«, so Würffel.

01. Januar
7.746.000 Rundfunkteilnehmer

05. August
Gründung der ARD, in der sich die Länderrundfunkanstalten zusammenschließen und einen Programmaustausch abmachen.

1951

Hörspielpreis der Kriegsblinden
Vom Bund der Kriegsblinden gestifteter, mit keinem Geldbetrag verbundener Ehrenpreis. Er wird jährlich von einer Jury an den Autor des bedeutendsten deutschsprachigen Originalhörspiels, das im vergangenen Jahr von einer Rundfunkanstalt der ARD erstmals gesendet wurde, verliehen.
Zeitschrift ›Der Kriegsblinde‹, 1951, Heft 11 (Juli):
»Wenn wir nach dem ›besten‹ deutschen Hörspiel fragen, so meinen wir damit das gewinnreichste, also jenes Hörspiel, das uns noch lange nach der Sendung am tiefsten bewegt und das uns innerlich bereichert. Wir suchen also jenes Hörspiel, das vom Menschlichen her uns anredet und uns eine Hilfe gibt, mit dem Dasein besser fertig zu werden oder die Zusammenhänge und Aufgaben unseres eigenen Lebens besser zu verstehen. Manche formal kunstvollen, eleganten und spannenden Hörspiele lassen uns ja zum Schluß mit leeren Händen zurück. Oft wissen wir nicht einmal, was der Autor eigentlich gewollt oder gemeint hat. Wir suchen also nicht literarische Spitzfindigkeiten oder Kunstfertigkeiten, sondern die Begegnung mit Menschen, deren Schicksal und Entscheidungen wir im Hörspiel miterleben und in denen wir uns irgendwie wiedererkennen, wobei natürlich der formale Gesichtspunkt nicht außer acht bleiben soll. Allein solche Hörspiele sind für uns gewinnreich und wichtig – ihnen zu größerer Anerkennung zu verhelfen, ist unsere Aufgabe.«

Günter Eich: »Träume«
»Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.«
Prager (Hörspielleiter des SDR): ›Träume‹ von Eich seien die eigentliche Geburtsstunde des Hörspiels, da hier nicht die Verschmelzung mit dem Publikum, sondern überwiegende Ablehnung »notwendige Herausforderung des Publikums durch das Hörspiel« sei.
Auszug aus einer Hörerpost: »Wir kommen abends müde von der Arbeit, wir wünschen nicht, zu aufregenden oder mühevollen Gedanken und Empfindungen geweckt zu werden.«
Eich ist der produktivste Hörspielschreiber dieser Jahre (insgesamt ca. 50 Hörspiele – letztes Hörspiel 1972).
Eichs »Infragestellung der Existenz« beginnt, viele Autoren ziehen nach. ›Verinnerlichung‹ der Hörspiele – wenn auch mit soziopolitischem Akzent und dem Spiel der Existenz und des Rollentauschs – in Gedanken, Träumen …

Die Sender zahlen je nach Größe des Publikumsbereichs für die Ursendung, und sie zahlten die Hälfte dieses Honorars für jede Wiederholung.
Zahlreiche Autoren (Günter Eich, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Heinrich Böll, Fred von Hoerschelmann) sind in den 50er Jahren freiberuflich oder hauptberuflich an Rundfunkanstalten tätig. Die häufige bisweilen wochenlange Anwesenheit von Autoren bei der Vorbereitung und Produktion eines Hörspiels ist selbstverständlich.

1952

Bildung des Staatlichen Rundfunkkomitees durch den Ministerrat der DDR als Nachfolgebehörde der Generalintendanz für die Ostzone.
Berliner Rundfunk und Mitteldeutscher Rundfunk werden samt der angegliederten Landessender und Regionalprogramme aufgelöst. An ihre Stelle treten drei zentrale Programme: Berlin I mit Schwerpunkt Politik, Berlin II (Deutschlandsender) mit den Schwerpunkten Kultur und Bildung und Berlin III mit volkstümlichen Sendungen.

Rolf und Alexandra Becker: »Gestatten mein Name ist Cox«
Der schlechthin sensationellste Hörspielerfolg aller Zeiten. Mehr als die Hälfte der Hörer des Sendegebietes schalteten ihr Radio ein.
Nicht eine einzige Leiche. Reiz und Rätsel liegen in der Figur des Detektivs, der mit einer wunderlichen Wirklichkeit phantastisch und lustig spielt.
Um den in Deutschland üblichen Vorurteilen gegen deutsche Krimiautoren vorzubeugen, hatte Becker die Funkserie unter dem Namen Malcom F. Browne, dem Namen seines Onkels, veröffentlicht.

»Man soll sich um das Hörspiel nicht grämen. Die Frage nach seiner Weiterentwicklung wird recht oft unnötigerweise mit einem Unterton von Besorgnis gestellt. Das Hörspiel existiert seit rund einem Vierteljahrhundert und wird vermutlich fortbestehen, modischen Theorien und exaltierten Hypothesen zum Trotz. Es ist eine rührende Täuschung, zu glauben, das eigentliche, das ›echte‹ Hörspiel gebe es noch nicht oder habe es nie gegeben.«
Gerhard Prager – Chefdramaturg des Süddeutschen Rundfunks

45 Prozent der Hörer hörten in Baden-Württemberg mindestens alle vierzehn Tage eine Hörspielsendung. Der SDR war der einzige Sender in diesen Jahren, der zwei Hörspieltermine in der Woche hatte.
Der SDR entschloss sich, Eich und Hoerschelmann an den Sender zu binden: Jedem wurde ein Fixum von 500 DM pro Monat zugesichert, dafür sollten sie vier Hörspiele pro Jahr liefern.

1953

Wuttig: »Nachtstreife«
Alltäglichkeit wird honoriert: Wuttig erhält mit »Nachtstreife« den Hörspielpreis der Kriegsblinden.
Inhalt: Polizist Schäfer hilft kleinere Vorfälle aufzuklären,die kleinen privaten Sorgen – Schäfers angespanntes Eheleben vergisst er dabei.

200 Ursendungen werden pro Jahr von den ARD-Anstalten produziert.

33 Prozent der Hörer gaben an, in den letzten 14 Tagen ein Hörspiel gehört zu haben.

Max Frisch: »Herr Biedermann und die Brandstifter«
Max Frisch: »Der Biedermann ist eine lustige Geschichte. […] Auch hatte ich lange nicht für die Bühne geschrieben, Fingerübung war vonnöten. So nahm ich (1956) das Hörspiel, um zwei Monate lang meine Fingerübung zu machen, die dann über 70 deutsche und viele fremdsprachige Bühnen ging.«

Ilse Aichinger: »Knöpfe«
Peter Hirche: »Die seltsamste Liebesgeschichte der Welt«

Hoerschelmann: »Das Schiff Esparanza«
Für die Erstsendung komponierte Siegfried Franz die Zwischenmusik. Diese sollte keine Klangkulisse sein, sondern die dramaturgischen Scharniere, um dem Hörer Stimmungsbrücken zu bauen.

01. Januar
11.108.000 Rundfunkteilnehmer

12. November
Der Sender Freies Berlin (SFB) entsteht.

1954

Wolfgang Hildesheimer: »Prinzessin Turandot«
Hildesheimers Welt in grotesker Verzerrung.

Dylan Thomas: »Unter dem Milchwald« – NWDR
60 verschiedene Stimmen (u.a. Inge Meysel) zeichnen ein lyrisch bestimmtes Bild vom wahren Leben, dem Alltag einer kleinen Stadt an der Meeresküste.
»Es ist Frühling, mondlose Nacht in einer kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz …«
Das Tonband förderte das Hörspiel! Zum Beispiel konnten die Dutzenden Stimmen im »Milchwald« durch das Tonband realisiert werden, was zuvor nur durch äußerste Disziplin bei der Produktion zu erreichen gewesen wäre.

»Schon jetzt ist in manchen Funkhäusern die Angstzensur ausgebrochen. Sie besteht darin, dass man jedes mögliche Risiko umgeht, vermeidet oder ausschaltet. Die Angestellten wagen es nicht, unangenehm aufzufallen, man könnte sie sonst bei irgend einer passenden Gelegenheit abhalftern – natürlich mit einer ganz anderen Begründung.«
Quelle: Günter Sawatzki – Tagesproblem des Hörspiels

25. Mai
Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) entsteht und wird aus dem NWDR herausgelöst.

1955

7 Millionen Menschen schalten den NWDR ein.
Davon hören 2,5 bis 3,7 Millionen Rundfunkteilnehmer Hörspiele.
95 Hörspieltermine des NWDR im Jahr mit 30-35 Neuproduktionen.
Insgesamt produzieren alle ARD Sender zusammen 350 Neuproduktionen
Die Hälfte der Inszenierungen sind Theatertexte und ausländische Texte oder Neuinszenierungen alter Texte – wenig originäre Texte für das Hörspiel.

In Kooperation zwischen NDR und SDR werden viele neue Hörspiele gleichzeitig herausgebracht. Aber nicht wie heute in Gemeinschaftsproduktion, sondern es werden gleichzeitig zwei verschiedene Inszenierungen produziert.

L. Ahlsen: »Philemon und Baucis«

Ein Hörspiel ist im Schnitt 100 Minuten lang – bis zum Jahr 2000 sinkt die durchschnittliche Länge eines Hörspiels auf 45 Minuten.

1956

Marie Luise Kaschnitz: »Der Zöllner Matthäus«
Kaschnitz: »Ich habe meine ersten Hörspiele nur als Fingerübungen betrachtet, und zwar als Fingerübungen für ein Theaterstück. Später habe ich gemerkt, dass für das Hörspiel andere Gesetze gelten und dass man sich auf diese Weise niemals auf die Bühne hinaufklimpern kann. Im Hörspiel darf man, meiner Ansicht nach, lyrisch und episch sein. Deswegen und weil es mir, wie gesagt, Freude macht, Dialoge zu schreiben, bin ich beim Hörspiel geblieben. Es ist auch sehr reizvoll, dass das Hörspiel nur auf das Wort gestellt ist und dass man historische und biblische Gestalten reden lassen kann, ohne damit bestraft zu werden, dass man sie eines Tages in Brustpanzern und damit wallenden Gewändern auf der Bühne erblicken muss.«

Friedrich Dürrenmatt: »Die Panne«

Francis Durbridge: »Paul Temple und der Fall Gilbert«
Temple Reihe von 1949-1962 und 1967 – der Gassenfeger der 50er Jahre.

27. November
Der Saarländische Rundfunk (SR) entsteht.

1958

Ingeborg Bachmann: »Der gute Gott von Manhattan«
»Der Schriftsteller – und das ist seine Natur – wünscht sich Gehör zu verschaffen. Und doch erscheint es ihm eines Tages wunderbar, wenn er fühlt, dass er zu wirken vermag. Umso mehr, wenn er wenig Tröstliches sagen kann von Menschen, die des Trostes bedürftig sind, wie nur Menschen es sein können: verletzt, verwundet und voll von dem großen, geheimen Schmerz, mit dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet ist.«
Ingeborg Bachmann: Auszug aus der Rede anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1958 an Ingeborg Bachmann

1960

Hörspiele sind – außer Tagesnachrichten und Volksmusik – die beliebtesten Sendungen.

Zehn Rundfunkanstalten produzieren ca. 350 Neuproduktionen, davon 100-120 Ursendungen – mit insgesamt 1.000 Hörspielterminen.

Heinrich Böll: »Klopfzeichen«
Dieter Wellershoff: »Der Minotaurus«

29. November
Der Deutschlandfunk / die Deutsche Welle (DLF / DW) entsteht.

1961

Friedrich Knilli: »Das Hörspiel – Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels«
»Jedes Hörereignis kann ein Hörspiel sein. […] Das Schauspiel kennzeichnen Mimik, Gestik und Gänge im Raum, akustische Raumvorgänge kennzeichnen das Schallspiel: Es ist radiophone Pantomime aus Geräuschen, Tönen, Stimmen.«
»Hörspiel ist somit keine (weitere) literarische Gattung, sondern vom technischen Mittel Radio, der Akustik, des Hörens abhängig, und davon wiederum seine Stilelemente.«
»Das literarische Hörspiel ist heute als Modell eindeutig erschöpft, es bringt nur mehr Gleiches, längst Dagewesenes, Totes hervor. Routine, Sterilität und Phraseologie greifen um sich.«

Schwitzke über das Buch von Knilli: »Ein Sektierer polemisiert darin gegen alles, was in 38 Rundfunkjahren als Hörspiel bezeichnet wurde. […] Ermuntert durch das Beispiel der elektrischen Musik und der musique concrète, läuft er gegen die beherrschende Stellung des Worts im Hörspiel Sturm, möchte vielleicht in Analogie zur Abstraktion in der Bildenden Kunst, die er aber nie zitiert, eine Art abstraktes Hörspiel. […] Bei der sieben Monaten dauernden Produktion eines elektronischen Zwölf-Minuten-Stückes von Pierre Boulez in Baden-Baden verfiel der ausübende Techniker in Weinkrämpfe; die herzschädigende Wirkung von Tönen ist bekannt, als dass hier genauere Ausführungen nötig wären.«
Schwitzke: »Das Hörspiel«

Themen bis ca. 1961 (nach J.M. Kamps):
Sinnlosigkeit des Krieges, Ost-West-Problem, der innere Widerstand, das Verhältnis zu Juden, der Schuld-Sühne-Komplex, Wohlstandsgesellschaft, Eheleben, Identität, Macht und Faschismus.

Zwischen 1925 und 1965 gibt es eine relativ geschlossene Hörspielentwicklung, mit dem Focus auf literarische Hörspiele – Ton, Geräusch, Musik werden nur als Beiwerk verstanden.
Der Durchbruch für ein neues Hörspiel kommt in dem Augenblick, da Regisseure und Dramaturgen genügend Erfahrungen im Umgang mit der Stereophonie hatten, um die Sprache als Geräuschkunstwerk und die Geräusche als sprachpsychologisches Phänomen zu benutzen. Schwitze dagegen warnt vor dem Naturalismus der Sterophonie.

01. Januar
16.058.102 Rundfunkteilnehmer und 5.332.143 Fernsehteilnehmer

1963

Heinz Schwitzke: »Das Hörspiel«
»Mit der Entmaterialisierung der Stimme und den nur als Hilfsmitteln zugelassenen Geräuschen wird eine ‘innere Bühne’ geschaffen. Zentrales dramaturgisches Element ist die Blende, die imaginäre Hörräume öffnet und wieder schliesst, wodurch das Zusammensetzen verschiedener Raum-Zeit- und Wirklichkeitsebenen möglich wird.«
Das Hörspiel wird bei Schwitzke als dramatisch–episch–lyrisch = innerlich verstanden.
»Innere Handlung, innerer Monolog, imaginärer Dialog, Dialog mit sich selber, das sind Begriffe, von denen her man auch das Hörspiel begreifen muss, der Ort, an dem es spielt, liegt nirgendwo anders als im Gewissen des Hörers.«
Schwitzke ist gegen jeden Naturalismus (Geräusche sind unerträglich) und Sterophonie. Bilder sollen im Kopf entstehen, im Inneren. Sprache, Deklaration sei wirkungsvoller als naturalistisches Geräusch, da sonst Phantasieverlust drohe.
»Im Hörspiel gibt es keine Musik ohne eine Handlungsfunktion und kein Geräusch ohne eine Sinnfunktion für den thematischen Zusammenhang.«
Für Schwitzke sind beim Hörspiel kreisförmige Handlungsverläufe und typisierende Figurenentwürfe typisch.

1965

Der ›Nouveau Roman‹’ (Nathalie Sarraute, Claude Ollier) beeinflusst das Hörspiel im weiteren Verlauf. (»Neues Hörspiel« | »Ars-Acustica«)
Gerhard Rühm, Reinhard Döhl, Bernd Alois Zimmerman arbeiten in dieser Richtung Hörspielversuche aus, die zunächst alle abgelehnt
werden.

Peter Weiss: »Die Ermittlung – Oratorium in 11 Gesängen«
»Die Ermittlung« ist eines der wichtigsten Stücke zur literarischen Aufarbeitung des Holocaust. Das Material zu diesem Stück ist dem Auschwitz-Prozess entnommen. Der Autor hat sich jeder Zutat aus eigener Erfindung enthalten. Die Hörspielfassung ist in ihrer epochalen Bedeutung gleichzeitig ein Stück Hörspielgeschichte.

1966

Heinz Hostnig (neuer Leiter des NDR):
»Als aktiver Mitspieler, nicht mehr als nur passiver Zuhörer könnte er (= der regelmäßige Hörer stereophoner Hörspiele) dann gelernt haben, seine Aufmerksamkeit hauptsächlich den akustischen Mitteln und dem formalen Aufbau des Stückes zuzuwenden […] wird er schließlich registrieren, dass diese Spiele geeignet sind, Denkvorgänge zu beschleunigen oder ganz allgemein Sinneswahrnehmungen zu vertiefen.«

1968

Sprache und Sprachkritik rücken in den Mittelpunkt:
Ernst Jandl, Friederike Mayröcker: »Fünf Mann Menschen«
»Sprache als Material« (»Neues Hörspiel« | »Ars-Acustica«) – beginnen mit Jandl und Mayröcker: Das Stück ist zugleich das erste vollständig stereophon produzierte Hörspiel.
Jandl, Mayröcker: »Hörspiel ist ein akustischer Ablauf, der sich von Musik dadurch unterscheidet, dass sein Material hauptsächlich aus gesprochener Sprache besteht; ohne eine Übereinkunft dieser Art konnte das Wort ›Hörspiel‹ auch dasselbe bedeuten wie das Wort ›Musik‹.«

Helmut Heissenbüttel: »Alles ist möglich. Alles ist erlaubt.«

Schwitzke: »Das Neue Hörspiel dagegen ist das Kind einer Zeit des Überflusses und des Konsums.«

Ludwig Harig: »Ein Blumenstück«
Harig collagiert Kinderreime, Kinderlieder mit Zitaten aus dem Höss-Tagebuch, das in blumiger/romantischer Sprache seinen Wohn- und Arbeitsort beschrieb – das KZ.
Harig: »Es wäre falsch, die Kinderlieder der Romatik für die Verbrechen des Dritten Reichs verantwortlich machen zu wollen; sie bleiben jedoch der Ausdruck einer Geisteswelt, die das Nationalgefühl der Deutschen bis über das Dritte Reich hinaus bestimmt hat. In dieser Geisteswelt mischt sich die Idylle mit der Aggression, die Innerlichkeit mit der Grausamkeit. Kindersprache ist nicht totes Objekt; sie kann zum Instrument der Herrschenden werden, und sie verliert darüber ihre Neutralität.«